Freitag, 9. Januar 2015

Radbruch zum Widerspruch zwischen Demokratie und Liberalismus

Die Demokratie will die unbedingte Herrschaft des Mehrheitswillens, der Liberalismus verlangt für den Einzelwillen die Möglichkeit, sich unter Umständen auch dem Mehrheitswillen gegenüber zu behaupten. Für den Liberalismus sind Ausgangspunkt des staatsphilosophischen Denkens die Menschenrechte, die Grundrechte, die Freiheitsrechte des Einzelnen, Teilstücke seiner natürlichen vorstaatlichen Freiheit, die mit dem unbedingten Anspruch auf Achtung in den Staat eingebracht werden, weil der Staat seine Aufgabe und seine Rechtfertigung ausschließlich in ihrem Schutz hat: "Der Endzweck aller politischen Gesellschaft ist die Erhaltung der natürlichen und unverjährbaren Menschenrechte" (Erklärung von 1789). Nach demokratischer Auffassung stellt dagegen der Einzelne seine vorstaatliche Freiheit restlos zur Disposition des Staatswillens, des Mehrheitswillens, um als Entgelt dafür nur die Möglichkeit zurückzuerhalten, sich an der Bildung dieses Mehrheitswillens zu beteiligen. Aus dieser Verschiedenheit der Grundanschauungen ergeben sich für Liberalismus und Demokratie ganz verschiedene politische Organisationsprinzipien, der lange verkannte Gegensatz zwischen Montesqieu und Rousseau: der Liberalismus huldigt der Gewaltenteilungslehre Montesqieus, deren Sinn es ist, die beiden Anwärter des Absolutismus, Monarch und Majorität, zugunsten der unversehrten Freiheitsrechte des Individuums gegeneinander auszuspielen; die Demokratie verwirft mit Rousseau die Gewaltenteilung, weil sie den dadurch bekämpften Mehrheitsabsolutismus ihrerseits gerade erstrebt.
Hier Mehrheit, dort Freiheit; hier Teilnahme am Staat und damit möglicherweise an der Mehrheit, dort Freiheit vom Staat; hier "staatsbürgerliche Freiheit", dort "bürgerliche Freiheit"; hier vom Staate erst gewährte politische Freiheitsrechte, dort vom Staate belassene natürliche Freiheiten; hier Gleichheit der gewährten Freiheitsrechte, dort allen gleichermaßen belassene Freiheit zum Gebrauche sehr verschiedener natürlicher Fähigkeiten, Gleichheit des Starts beim Wettlauf, die sich schnell in Ungleichheit verwandelt; hier überwiegt der Gedanke der Gleichheit den der Freiheit, dort umgekehrt der Freiheitsgedanke den Gleichheitsgedanken. Denn es ist aus allem Gesagten verständlich, daß es sich bei dieser Unterscheidung nicht um Ausschaltung des liberalen Elements durch das demokratische oder umgekehrt handelt, sondern um Überwiegen des einen oder des andern in ihrer nach faschistischer Ausdrucksweise "demoliberalen" Mischung.
Und nunmehr sind wir in der Lage, zu dem weltanschaulichen Gegensatz durchzustoßen, aus dem die geschilderten Einzelgegensätze entspringen. Algebraisch gesprochen: Demokratie mißt dem Individuum nur einen endlichen, Liberalismus einen unendlichen Wert bei. Für die Demorkatie ist also der Wert des Individuums multiplizierbar, der Wert der Majorität der Individuen höher als derjenige ihrer Minorität; der unendliche Individualwert des Liberalismus ist dagfegen begriffsnotwendig auch durch den Wertgehalt einer noch so großen Majorität überwindbar. Diese verschiedene Bewertung des Individuums dürfte in einer verschiedenen Struktur des beiderseitigen ethischen Wertbegriffs begründet sein. Dem Liberalismus scheint der sittliche Wert grundsätzlich in einem einzelnen Individuum vollkommen in Erfüllung gehen zu können. Jeder einzelne ist zur Verwirklichung des für alle gleichen vollen, also unüberbietbaren, also unendlich sittlichen Wertes berufen. Für die Demokratie erhält dagegen der sittliche Wert erst durch seine Anwendung auf die verschiedensten Individuen seinen Inhalt, und fr jedes Individuum einen anderen Inhalt – nur an einer unendlichen Zahl von Individuen vermag sich der ganze Reichtum der sittlichen Welt zu entfalten.

Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie (dritte, ganz neu bearbeitete und stark vermehrte Auflage, Verlag von Quelle & Meyer, Leipzig, 1932), 61ff.

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