Freitag, 31. Oktober 2014

Sloterdijk und die Steuern

Um die Prozeduren der zeitgenössischen Fiskalität zu würdigen, ist daran zu erinnern, daß sie noch immer in direkter Kontinuität aus den absolutistischen Traditionen hervorgehen. Ein solches System bleibt darum auch für eine demokratische Gesellschaftsordnung inakzeptabel, da auch heute noch die materiellen beziehungen zwischen Staat und Bürger fast ausschließlich von oben her gestaltet werden. Sollte es je zu einer demokratischen Metamorphose kommen, müßte der Fiskus seine Zugriffe auf Bürgervermägen den veränderten Verhältnissen in Theorie und Praxis anpassen. Erkennen würde man dies daran, daß die faktisch gebende Seite auch rechtens als gebende verstanden würde, und nicht bloß als schuldende. Folglich müßte die gebende Partei in allen Phasen des fiskalischen Prozesses, von der Vereinnahmeung bis zur Verausgabung, auf angemessene Weise involviert werden – weit über die heutigen Üblichkeiten der >>Haushaltspolitik<< hinaus.

Peter Sloterdijk, Die nehmende Hand und die gebende Seite (Suhrkamp, 2010), 20.

Donnerstag, 30. Oktober 2014

besser tun als unterlassen

In the long run, people of every age and in every walk of life seem to regret not having done things much more than they regret things that they did, which is why the most popular regrets include not going to college, not grasping profitable business opportunities, and not spending enough time with family and friends.

Daniel Gilbert, Stumbling on Happiness (Alfred A. Jnopf, 2006), 183

Dienstag, 14. Oktober 2014

Kelsens "Fiktion der Repräsentation"

Wenn man sagt, daß ein Organ in Ausübung seiner Funktion das Volk, das heißt die die Staatsgemeinschaft bildenden Individuen, repräsentiert, wenn man so seine Funktion diesen Individuen zuschreibt, so meint man, daß das Individuum, dessen Funktion man auch der Person des Staates zuschreiben und das daher als Organ des Staate s gelten kann, rechtlich oder auch nur moralisch gebunden ist, seine Funktion im Interesse des Volkes, das heißt der die Staatsgemeinschaft bildenden Individuen auszuüben. Da man im juristischen Sprachgebrauch Interesse mit Wille mehr oder weniger identifiziert, indem man annimmt, daß, was ein Mensch „will", sein Interesse ist, glaubt man das Wesen der Repräsentation darin zu sehen, daß der Wille des Repräsentanten der Wille des Repräsentierten ist, daB der Repräsentant mit seiner Aktion nicht den eigenen, sondern den Willen des Repräsentierten realisiert. Das ist eine Fiktion, selbst dann, wenn der Wille des Repräsentanten durch den Willen des Repräsentierten mehr oder weniger gebunden ist, wie im Falle der rechtsgeschäftlichen Vertretung oder der Repräsentation unter einer ständischen Verfassung, nach deren Bestimmung die Vertreter der Stände an die Instruktion ihrer Wähler gebunden sind und von diesen jederzeit abberufen werden können. Denn auch in diesen Fällen ist der Wille des Vertreters oder Repräsentanten ein vom Willen des Vertretenen oder Repräsentierten verschiedener Wille. Noch offenkundiger ist die Fiktion der Willensidentität, wenn der Wille des Vertreters oder Repräsentanten in keiner Weise durch den Willen des Vertretenen oder Repräsentierten gebunden ist, wie im Falle der gesetzlichen Stellvertretung des Handlungsunfähigen oder der Repräsentation des Volkes durch ein modernes Parlament, dessen Mitglieder in Ausübung ihrer Funktion rechtlich unabhängig sind; was man damit zu kennzeichnen pflegt, daß sie ein „freies Mandat" haben.“ 

Hans Kelsen, Reine Rechtslehre (zweite, vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage von 1960), S. 302